Töten aus Spass? Vom Jäger zum Gejagten

Mit der Tradition der Jagd und dem Tierschutz prallen zwei Welten aufeinander: Für Jäger wie Philip Klöti ist die Jagd ein unverzichtbarer Dienst an der Natur. Für Veganerin Anja Leibacher hingegen ist sie ein moralisches Verbrechen. Ein Konflikt, der tiefer geht als der blosse Schuss – und grundlegende Fragen über das Verhältnis von Mensch und Tier aufwirft.

Kurz vor Sonnenuntergang macht sich Philip Klöti in seinem Jagdrevier auf den Weg zum Hochsitz. «Wir müssen leise sein, es soll nicht gerade der ganze Wald mitbekommen, dass wir hier sind», flüstert er und stapft leise und elegant – fast wie ein Reh – über die nasse Wiese. Seit Jahren durchstreift er die Wälder von Schinznach AG und Veltheim AG. Er kennt jedes Rascheln, jeden Trampelpfad und jeden Ort, an dem die Tiere auf Nahrungssuche vorbeikommen.

Philip Klöti auf dem Weg zum Hochsitz.

Die Jagdgesellschaft Schenkenberg hat vom Kanton Aargau die Aufgabe erhalten, jedes Jahr 60 Rehe zu erlegen. «Alles, was man hier im Wald sieht, ist vom Menschen gemacht. Wieso soll man dann nicht auch den Bestand der Tiere regulieren? Es ist eine Utopie zu denken, dass die Natur ohne den Menschen so aussehen würde, wie wir sie kennen», erklärt der Jäger auf dem Weg.

Endlich ist das Ziel erreicht und unter dem Dach des Hochsitzes findet der 34-Jährige Unterschlupf vom mittlerweile eingesetzten Regen. Er macht es sich auf drei Metern über dem Boden bequem und zückt sein Fernglas. Die ersten Rehe stehen schon am Waldrand. Eine Mutter und ihr Kitz toben auf der Wiese. «Die sind zu weit weg. Das sind gut 800 Meter, da kann ich keinen sicheren Treffer garantieren», erklärt Klöti und fügt mit einem Lächeln im Gesicht hinzu: «Da kann auch ich als Jäger einfach zurücklehnen und den Anblick geniessen.»

Der tödliche Schuss

So schön dieser Anblick auch sein mag, ein Rascheln nur wenige Meter unter dem Hochsitz holt ihn zurück in den Jagdmodus. Ein ausgewachsener Rehbock steht gut 50 Meter entfernt von ihm. Innert Bruchteilen von Sekunden spannt sich bei Philip Klöti alles an.

Achtung: Dieses Video enthält Szenen, die zeigen, wie ein Tier erschossen wird. Diese Inhalte können verstörend wirken und sind möglicherweise nicht für alle Zuschauerinnen und Zuschauer geeignet.

«Sie töten Tiere aus Spass»

Beim Anblick dieser Bilder kann Anja Leibacher nur den Kopf schütteln. «Für mich ist es einfach ein Tiere morden», sagt sie, während der jungen Veganerin eine kleine Träne über die Wangen kullert. Dass der Mensch den Bestand der Wildtiere regulieren muss, leuchtet der 24-jährigen Aargauerin nicht ein. «Der Mensch stellt sich damit so extrem über die Tiere. Sie sind da, um sie zu jagen – und wir haben Freude daran.»

Seit sieben Jahren lebt Anja Leibacher vegan – und dies nur aus einem Grund – aus der Liebe zu den Tieren: «Ich verstehe nicht, wieso gewisse Menschen Katzen und Hunde halten, aber Rinder und Schweine verspeisen. Ich mache da keinen Unterschied, auch diese Tiere haben Liebe verdient und wollen nicht getötet und gegessen werden.»

Früher hat auch sie Fleisch gegessen. In ihrem Elternhaus sei es normal gewesen, dass mehrmals in der Woche Fleisch auf dem Teller lag. Zu Beginn war die Umstellung auf den veganen Lebensstil deshalb sehr schwierig und sie musste sich immer wieder Sprüche anhören, wie zum Beispiel, dass sie ohne Fleisch zu wenig Protein zu sich nehmen würde und so krank werde.

Heute kann Anja Leibacher solche Sprüche mit einem Lächeln abhaken. Im Alltag sei es kein Problem, sich vegan zu ernähren. «Heute hat man so viele Möglichkeiten. Und dazu schmecken die veganen Ersatzprodukte richtig gut.» schwärmt Anja, während sie im Supermarkt durch die Gänge schlendert. Doch ihr Gesichtsausdruck ändert rasant, als sie in der Fleischabteilung mit einer eigenen Metzgerei vorbeiläuft.

Das Problem könne man nicht von heute auf morgen lösen, das ist Anja Leibacher bewusst. Trotzdem wünscht sie sich, dass Menschen bewusster Fleisch konsumieren und nachdenken, woher das Steak auf ihrem Teller kommt. «So kann man den Fleischkonsum eindämmen und auch die Jagd zurückfahren. So kann man den Tieren ihren natürlichen Lebensraum im Wald zurückgeben und sie können sich selbst regulieren .»

Rekordjahr 2023

5839 Rehe wurden im Jahr 2023 in den Wäldern des Kanton Aargaus erlegt. Seit 1971 führt der Kanton die Jagdstatistik. Noch nie haben Jägerinnen und Jäger so viele Rehe erlegt, wie letztes Jahr. «Der Lebensraum bei uns ist optimal. Die starke Verzahnung von Wäldern, Wiesen und Hecken gefällt den Tieren. Dazu haben sie eine extrem hohe Fortpflanzungsrate von bis zu 50 Prozent», erklärt Reto Fischer, Fachspezialist Jagd vom Kanton Aargau.

Verschont wurden dafür die Wildschweine. Mit 988 Abschüssen hatten Jägerinnen und Jäger deutlich weniger Wildschweine im Visier, als die Jahre zuvor. Die Borstentiere richten im Kanton hohe Landschäden an. Vor zwei Jahren Betrug der Schaden ca. eine halbe Million Franken, im Jahr 2023 ging der Schaden trotz der weniger geschossenen Tiere um ca. 100’000 Franken zurück. Verantwortlich dafür sei laut Reto Fischer unter anderem der Klimawandel. Die milderen Winter sorgten dafür, dass das Nahrungsangebot im Wald besser ist. «Finden die Wildschweine Nüsse von Eichen und Buchen und weitere Nahrung im Wald, bleiben sie dort und richten auf den Feldern weniger Schäden an», sagt Fischer.

Blut, Innereien und Weidmännische-Prinzipien

Zurück bei Philip Klöti in Veltheim auf dem Hochsitz. Noch immer zittern seine Hände. Vor 10 Minuten hat der 34-jährige Jäger einen ausgewachsenen Rehbock erlegt. Mittlerweile ist es dunkel geworden und er macht sich auf den Weg zum toten Tier. Nach einer kurzen Suche mit der Taschenlampe liegt der Bock da, vor seinen Füssen. Ein Hauch von Rauch steigt aus der Wunde, als hätte das Leben den Körper gerade erst verlassen. «Auf der Scheibe hätte ich eine 10 geschossen», sagt Klöti stolz, wahrend er den Rehbock und die Schusswunde begutachtet. «Ein sehr guter Schuss, genau auf dem Schulterblatt. Zuerst dachte ich, ich bin ein bisschen weiter unten gelandet. Ich bin sehr zufrieden, ein toller Abschuss.»

Er zerrt das Tier zu seinem Auto. An seinem Geländewagen hängt hinten dran ein Korb, in dem der ausgewachsene Rehbock transportiert werden kann. Jetzt muss es schnell gehen. Mit dem Tier fährt er zum Kühllager der Jagdgesellschaft Schenkenberg. Hier warten schon seine Kollegen, manche gleich erfolgreich wie Klöti. Mit gekonnten Handgriffen schneidet er dem Rehbock die Innereien raus – Aufbrechen, wie es in der Jägersprache heisst.

Achtung: Dieses Video enthält Szenen, die zeigen, wie ein Tier aufgebrochen wird. Diese Inhalte können verstörend wirken und sind möglicherweise nicht für alle Zuschauerinnen und Zuschauer geeignet.

15,5 Kilo wiegt der Rehbock ohne seine Organe. «Das ist eher ein grösseres Tier», meint Klöti, während er den aufgebrochenen Körper im Kühllager verstaut. «Das wird nun verkauft, wir haben da Bestellscheine. Entweder kommt das in ein Restaurant oder zu einer Privatperson.»

Dass er mit seiner Jagd auch auf Ablehnung stösst, ist dem 34-Jährigen bewusst. Viele Diskussionen, egal ob mit Freunden oder Tierschützern, hat der Jäger schon hinter sich. Dabei versucht er nüchtern und ohne grosse Aufregung zu erklären, wie sein Alltag auf der Jagd aussieht. Dass es um Respekt gegenüber der Natur und dem Tier geht und sie nicht die «Rambos» sind, die einfach nur Blut sehen wollen. «Am liebsten würden wir den Kritikern einfach nur sagen: Kommt einmal mit und schaut es euch mit eigenen Augen an! Aber das würde dann auch wieder Überwindung brauchen. Und die Leute kommen nicht gerne aus ihrer Komfortzone raus.»

Am Ende des Tages bleibt die Jagd ein kontroverses Thema, das Menschen wie Philip Klöti und Anja Leibacher aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Während Klöti die Verantwortung für den Wildbestand und den respektvollen Umgang mit der Natur betont, wünscht sich Leibacher eine Welt, in der Tiere nicht vom Menschen kontrolliert werden müssen. Beide Positionen werfen die zentrale Frage auf: Wie wollen wir in Zukunft mit der Natur und der Jagd umgehen? Es ist eine Frage, die uns alle betrifft – ob auf dem Hochsitz oder im Supermarkt.

Die fünfzehnminütige Reportage zum Thema finden Sie hier.